EZB: Risiken einer vorzeitigen Zinssenkung

EZB: Risiken einer vorzeitigen Zinssenkung
EZB: Risiken einer vorzeitigen Zinssenkung
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Die Unfähigkeit der EZB, rechtzeitig auf den jüngsten Inflationsschub zu reagieren, ist teilweise auf ungenaue Prognosen zurückzuführen.

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Angesichts der Tatsache, dass die Inflation in der Eurozone von ihrem Höchststand von 10,6 % im Oktober 2022 auf 2,6 % im Mai dieses Jahres gesunken ist, zeigt sich die Europäische Zentralbank (EZB) optimistisch. Sie prognostiziert, dass sich dieser Rückgang fortsetzen wird: Sie erwartet eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,4 % in diesem Jahr, 2 % im nächsten Jahr und 1,9 % im Jahr 2026. Folglich könnte sie am 6. Juni ihren wichtigsten Leitzins (den ihrer Einlagenfazilität) senken. von 4 % auf rund 3,75 %.

Für die Märkte ist dies eine erste Senkung der Leitzinsen der EZB, der in den nächsten zwei Jahren noch viele weitere folgen werden. Der Ankündigungseffekt und der für diese Senkung gewählte Zeitpunkt sind erheblich, da die EZB seit ihrer Gründung vor 26 Jahren erst zum fünften Mal einen Zinssenkungszyklus eingeleitet hat. Eine vorausschauende Geldpolitik ist durchaus lobenswert, sie ist jedoch an sich begrenzt, insbesondere aufgrund der in den letzten Jahren gestiegenen Unsicherheit der Konjunkturprognosen.

Es ist sehr schwierig, eine Inflation über einen Zeitraum von einem Jahr vorherzusagen. Die Unfähigkeit der EZB, rechtzeitig auf den jüngsten Inflationsschub zu reagieren, ist teilweise auf ungenaue Prognosen zurückzuführen. Modellbasierte Prognosen kehren naturgemäß mittelfristig tendenziell zu historischen Durchschnittswerten zurück. Darüber hinaus zeigt die Vergangenheit auch, dass langfristige Inflationsprognosen häufig in Richtung des Ziels der Zentralbank tendieren. Somit sind die Prognosen der EZB einer sinkenden Inflation teilweise das Ergebnis einer historischen Verzerrung.

Die jährliche Inflationsrate der Eurozone liegt weiterhin über 2 % und die jüngsten Trends sind besorgniserregend.

Darüber hinaus sind auch die anhaltenden Auswirkungen pandemiebedingter Maßnahmen (wie steigende Zentralbankbilanzen und steigende Haushaltsdefizite) und Wirtschaftssanktionen gegen Russland schwer zu modellieren und vorherzusagen. Ebenso verkomplizieren zusätzliche geopolitische Risiken (darunter der Konflikt im Nahen Osten und eskalierende Spannungen zwischen den USA und China) die Inflationsaussichten zusätzlich, da die meisten Inflationstreiber nach oben tendieren.

Auch strukturelle Veränderungen deuten auf eine höhere Inflation hin. Zu den offensichtlichen Quellen des Inflationsdrucks zählen die angespannteren Arbeitsmärkte (aufgrund der Bevölkerungsalterung), erhebliche Investitionen in die Energiewende, Energiesicherheit und -verteidigung, die Deglobalisierung und die künftigen Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine.

Die jährliche Inflationsrate der Eurozone liegt weiterhin über 2 % und die jüngsten Trends sind besorgniserregend. Betrachten wir statt der Wachstumsrate den saisonbereinigten Verbraucherpreisindex: Nach einem leichten Rückgang Ende 2023 steigt er seit Januar mit einer Jahresrate von 3,1 %.

Vor dem Hintergrund einer sich beschleunigenden Verbraucherinflation von über 2 %, einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote und einem raschen Lohnanstieg (die Tariflöhne stiegen im ersten Quartal im Jahresvergleich um 4,7 %) könnte ein Zinssenkungszyklus zu einem weiteren schwerwiegenden Anstieg führen Richtlinienfehler. Die EZB hat bereits in den Jahren 2021 und 2022 einen Fehler gemacht, indem sie sich bei der Festlegung ihrer Geldpolitik auf fehlerhafte Prognosen verlassen hat. Nun scheint sie kurz davor zu stehen, denselben Fehler zu wiederholen. Sich auf unzuverlässige Prognosen zu verlassen und die wirtschaftlichen Realitäten zu ignorieren, ist keine vorausschauende Politik, sondern eine illusorische Politik.

Die Prognoseunsicherheit stellt für alle Zentralbanken ein großes Problem dar, da der Erfolg einer Politik von einem Mindestmaß an Prognosesicherheit abhängt. Wenn diese abnimmt, muss man wissen, wie man mit den Risiken umgeht. In einem von Unsicherheit geprägten Umfeld muss die Geldpolitik vor allem erhebliche Fehler vermeiden.

Das gefährlichste Szenario wäre natürlich eine anhaltende Inflation durch eine zu expansive Geldpolitik.

Der EZB drohen zwei Fallstricke: eine zu restriktive Geldpolitik oder eine vorzeitige Lockerung. Eine zu restriktive Politik könnte zu Rezession und Deflation führen, was die Stabilität der Finanz- oder Immobilienmärkte gefährden würde. Dieses Szenario ist zwar unerwünscht, stellt jedoch keine existenzielle Bedrohung für die Eurozone dar. Die EZB verfügt über ausreichend Handlungsspielraum, Erfahrung und Instrumente, um die Deflation bei Bedarf zu bekämpfen.

Andererseits könnte eine vorzeitige Lockerung der Geldpolitik die Inflation wieder ankurbeln und die EZB zwingen, ihren Kurs umzukehren, indem sie ihre Zinssätze auf ein höheres Niveau als heute anhebt. Diese Politik wäre gefährlich für die Stabilität der Eurozone, da überschuldete Mitgliedsländer mit einer untragbaren Schuldendynamik konfrontiert sein könnten und die Anleihemärkte an ihrer Fähigkeit zum Schuldenabbau zweifeln würden. Die Staaten würden dann versuchen, den Zentralbanken noch mehr Gewicht zu verleihen, was dazu führen würde, dass Haushaltsüberlegungen Vorrang hätten. Wenn die Zentralbanken zögern, alles Notwendige zu tun, könnte mit der Zeit eine Inflation einsetzen.

Das gefährlichste Szenario wäre natürlich eine anhaltende Inflation durch eine zu expansive Geldpolitik. Doch genau dieses Risiko geht die EZB ein, wenn sie nun in einen neuen Zinssenkungszyklus einsteigt. Eine zu schnelle Umstellung auf eine Lockerung der Geldpolitik könnte ihre Glaubwürdigkeit untergraben und das Inflationsrisiko erhöhen. Die EZB verwaltet Risiken schlecht, indem sie deren Asymmetrie vernachlässigt. Zentralbanken sollten ihre Politik nicht von den Märkten leiten lassen. Eine vorzeitige Entlassung ist ein gefährliches Glücksspiel.

Aus dem Englischen übersetzt von Patrice Horovitz

Urheberrecht: Project Syndicate, 2024.

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