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Deutschland und Frankreich galten jahrzehntelang als Wirtschaftsmotoren der Europäischen Union. Doch heute scheint diesen beiden Giganten die Kraft auszugehen. Ganz anders stellt sich die Situation in den Ländern Südeuropas dar.
Friedrich Holewik
Ein Artikel von
Das europäische Wirtschaftsgleichgewicht gerät ins Wanken: Den beiden Wirtschaftsschwergewichten Frankreich und Deutschland stehen geschwächte Regierungen gegenüber. Streitigkeiten über den Haushalt und die Verwaltung der Staatsverschuldung waren die Hauptursachen für Unstimmigkeiten.
Inzwischen sind die ehemaligen „Enfant terribles“ der Finanzkrise – Portugal, Italien, Griechenland und Spanien – weisen seit einigen Jahren ein deutlich dynamischeres Wirtschaftswachstum auf. Prognosen für 2025 bestätigen diesen Trend.
So plant die Europäische Kommission ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von Deutschland und Frankreich um 0,8 % bis Herbst 2025. Für Italien wird ein ähnlicher Anstieg erwartet. Auf der anderen Seite, Für Portugal prognostiziert die Kommission ein Wachstum von 1,9 %, für Spanien und Griechenland von 2,3 %.
Spürbare wirtschaftliche Trübsal
Die schwierige Wirtschaftslage in Deutschland beschränkt sich nicht mehr nur auf Beschwerden von Unternehmern. Große Unternehmen wie Volkswagen und Thyssenkrupp haben kürzlich angekündigt, ihre Belegschaft abzubauen und Standorte zu schließen. Der Ifo-Geschäftsklimaindex, der jeden Monat Tausende Unternehmer befragt, ist zum sechsten Mal in Folge gesunken. Die Geschäftsmoral ist auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020. Wirtschaftsforschungsinstitute korrigieren ihre Prognosen weiterhin nach unten.
Die Regierungskoalition mit dem Spitznamen „Ampelkoalition“ hat den Meinungsverschiedenheiten über das Ausmaß der Krise und die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Maßnahmen, insbesondere die Idee einer neuen Verschuldung zur Stützung der Wirtschaft, nicht widerstanden.
Auch in Frankreich hat die Regierung von Michel Barnier den Debatten über die Verwaltung der Staatsschulden nachgegeben. Der Premierminister wollte das öffentliche Defizit von 6,1 % auf 5,0 % senken. Die europäischen Haushaltsregeln sehen normalerweise eine Obergrenze von 3 % vor. Das öffentliche Defizit bezeichnet die Lücke zwischen öffentlichen Ausgaben und Staatseinnahmen.. Eine Reduzierung dieses Defizits würde weniger Spielraum für die Aufnahme neuer Schulden lassen. Doch der Vorschlag stieß sowohl bei der Linken als auch bei der Rechten auf heftige Kritik, was zu einem Misstrauensvotum führte.
Im Dezember führte diese Instabilität sogar zu einer unerwarteten Situation: Frankreich und Deutschland mussten vorübergehend höhere Zinsen für ihre Schulden zahlen als Griechenland. Und vielleicht ist das erst der Anfang. Die Agentur Moody’s senkte kürzlich die Kreditwürdigkeit Frankreichs von Aa2 auf Aa3 und verwies auf eine wahrscheinliche Verschlechterung der öffentlichen Finanzen im Jahr 2024. Eine Herabstufung, die die Kreditaufnahme teurer macht.
Ein Süden, der Vertrauen schafft
Diese Situation veranschaulicht eine Umkehr der wirtschaftlichen Dynamik in Europa. Ehemalige „schlechte Studenten“ aus dem Süden wecken nun mehr Vertrauen bei Banken und Investorenund optimistischer in die Zukunft blicken. Die Gründe für diese Kehrtwende sind vielfältig. Deutschland und Frankreich, die es seit langem gewohnt waren, ungeschoren davonzukommen, wurden überrascht. Sie hatten die Finanzkrise von 2008 überwunden und schienen zunächst den Auswirkungen der Pandemie zu widerstehen.
Die stark vom Tourismus abhängigen südeuropäischen Länder litten zu dieser Zeit besonders stark und brauchten deutlich länger, um sich zu erholen. Italien beispielsweise blieb mehr als ein Jahrzehnt hinter dem europäischen Wachstumsdurchschnitt zurück. Die von den Gläubigern – und der EU – Griechenland auferlegten Sparprogramme sowie die darauf folgenden gewalttätigen Proteste sind noch in Erinnerung.
Daher ist es vor allem der Wiederbelebung des Tourismussektors zu verdanken, dass diese Länder ihre wirtschaftliche Dynamik wiedererlangt haben. Spanien und Griechenland gehören mittlerweile zu den wenigen Regionen der Welt, die das Niveau vor der Pandemie erreicht haben.
Reformen tragen Früchte
Auch Strukturreformen haben zu ihrem Wirtschaftswachstum beigetragen. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (IW) aus dem Jahr 2022 ergab, dass die Teilnahme Griechenlands am Programm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Früchte getragen hat. Zu den bemerkenswerten Reformen gehören:
- Effizientere Verwaltung.
- Eine Modernisierung des Insolvenzrechts.
- Ein verstärkter Kampf gegen Schwarzarbeit.
- Strengere Steuererhebung.
Der nach der Finanzkrise gegründete ESM hat die Aufgabe, in Schwierigkeiten geratene Mitgliedstaaten mit Krediten und Garantien zu unterstützen, um ihre Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Darüber hinaus hat Südeuropa stark vom 800 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds NextGenerationEU profitiert. Das sagte Carsten Brzeski, Chefökonom für die Eurozone bei der niederländischen Großbank ING, der Zeitung Quaddel:
„Südeuropäische Länder haben das Konjunkturprogramm viel ernster genommen als reichere Länder“
Im Gegenzug für diese Mittel setzten sie die von Brüssel geforderten ehrgeizigen Reformen um. Carsten fügt hinzu:
„Sie hatten eine klare Vorstellung davon, wie sie mit diesem Geld Strukturreformen unterstützen wollten“
Ein weiterer wichtiger Faktor, der zugunsten der Länder des Südens und gegen Deutschland wirkte, ist die Energie. Letzteres musste auf seinen wichtigsten Öl- und Gaslieferanten Russland verzichten.nach dem Einmarsch in die Ukraine. Dieser Prozess war kostspielig und eine Quelle großer Unsicherheit. Deutschland musste zu deutlich höheren Preisen einkaufen und es gab Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit, den Energiebedarf zu decken aufgrund zu hoher Kosten oder Lieferengpässen. Besonders heftig wurde über die Priorisierung der Energieversorgung in Unternehmen diskutiert, was zu Problemen in der Branche führte.
In Südeuropa spielt der Industriesektor eine deutlich geringere Rolle. Der Anteil russischer Energieträger an ihrem Energiemix ist geringer. Langfristig könnten Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sogar von niedrigeren Energiepreisen profitierendank der Fülle an Sonne und Wind in ihren Küstenregionen, die ihnen einen Vorteil bei der Energiewende verschafft.
Wie groß wird die Krise sein?
Was bedeutet diese Entwicklung für Europa? Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick, betont jedoch: „Eine neue Eurokrise steht nicht bevor“. Die Krise verdeutlicht jedoch die politische Instabilität, mit der Europa konfrontiert ist.
„Unsicherheit über zentrale fiskal- und handelspolitische Fragen belastet die europäische Wirtschaft“
Moritz Schularick
Ähnlich beurteilt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank, die Lage. „Die Marktteilnehmer sehen Frankreich zwar missbilligend, wenden sich aber nicht von ihm ab.er erklärt. Dieses relative Vertrauen lässt sich durch eine Situation erklären, die sich stark von der der Finanzkrise 2008 unterscheidet.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert für Frankreich in diesem Jahr ein Wachstum von 1,1 %, für Deutschland dagegen eine Stagnation. Darüber hinaus sind die Zinsen, die Frankreich für seine Kredite zahlen muss, nach wie vor deutlich niedriger als die Zinsen, die Griechenland im schlimmsten Fall der Krise in der Eurozone zahlen musste. Damals hatten hohe Zinsen die Schuldenspirale angeheizt und Griechenland in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt.
Gegensätzliche Perspektiven
Trotz ihrer Fortschritte können die südeuropäischen Länder bei weitem nicht mit der Gesamtwirtschaftsleistung Deutschlands und Frankreichs mithalten. Im Jahr 2022 betrug das BIP Deutschlands 4.450 Milliarden Euro, verglichen mit 3.030 Milliarden in Frankreich. Zum Vergleich: Das BIP Italiens, der größten Volkswirtschaft im Süden, erreichte 2.250 Milliarden.
(Übersetzt aus dem Deutschen von Tim Boekholt)
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