Gleichzeitig nannte er die Begründung: „Die ÖVP hat aus zwei schlechten Optionen die für sie deutlich angenehmere gewählt“ – die Alternative wären Neuwahlen gewesen, bei denen sie kaum besser abgeschnitten hätte als zuletzt. Der Schritt, nun „Juniorpartner der FPÖ werden zu wollen“, sei „sicherlich mit großem Zähneknirschen“ erfolgt – die Partei sei aber wohl bereit, „fast jeden Preis“ für eine Regierungsbeteiligung zu zahlen.
Was ist passiert? Unmittelbar nach seiner einstimmigen Zustimmung durch den ÖVP-Parteivorstand trat der neue geschäftsführende Parteichef Christian Stocker am Sonntagnachmittag vor die Kameras. Zur Einordnung: Mit Stocker wurde der Generalsekretär zum ÖVP-Chef und damit zum Nachfolger von Karl Nehammer ernannt, der am Vortag seinen Rücktritt als Kanzler und ÖVP-Chef angekündigt hatte. Der Wirtschaftsflügel der ÖVP setzte sich mit seiner Affinität zu einer Koalition mit den Blauen durch.
Stocker: Situation jetzt „anders“
Nehammer und Stocker sprachen stets mit einer Stimme, insbesondere wenn es um die ablehnende Haltung gegenüber der FPÖ ging. Auf der Pressekonferenz sagte Stocker dann, dass die ÖVP jedes Angebot der FPÖ annehmen würde, über Koalitionsverhandlungen zu sprechen, wenn die Freiheitlichen den Regierungsauftrag von Bundespräsident Alexander Van der Bellen erhalten würden. Die Situation sei nun „anders“.
Kehrtwende in der ÖVP
In seiner vorherigen Funktion als Generalsekretär attestierte Christian Stocker (ÖVP), dass Herbert Kickl (FPÖ) „jegliches Format für einen Kanzler“ vermisse. Die ÖVP ist nun bereit, mit dem FPÖ-Chef über einen Regierungseintritt zu verhandeln.
Dass Stocker nun die Koalitionsverhandlungen mit FPÖ-Chef Kickl führen würde, den er monatelang scharf kritisiert und eine Regierung mit ihm ebenfalls ausgeschlossen hatte, beruhte auf der veränderten Situation nach dem Scheitern der Gespräche mit der SPÖ. Es gehe nicht um Kickl oder ihn, sondern darum, dass das Land eine stabile Regierung bekomme und keine Zeit mit Wahlkämpfen verliere, sagte Stocker.
Tore für Blau-Schwarz „sehr weit offen“
Aber nicht nur die ÖVP, sondern auch Van der Bellen habe eine 180-Grad-Wende vollzogen, sagte Filzmaier. Der Bundespräsident erklärte am Samstag, dass „die Stimmen innerhalb der ÖVP, die eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen, leiser geworden sind“ und sich ein neuer Weg aufgetan habe.
Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle sagte am Sonntag in einem Interview mit ZIB2, dass der Satz wohl von vielen so verstanden werde, dass Politiker nicht die Wahrheit sagen – insbesondere im Wahlkampf. „Politiker sind bereits situativ flexibel“, sagt Stainer-Hämmerle.
Stainer-Hämmerle: „Politiker sind bereits situativ flexibel“
Die politische Landschaft in Österreich befindet sich im Wandel. Nach dem angekündigten Rückzug von Karl Nehammer gibt es Anzeichen dafür, dass sich die ÖVP der FPÖ annähert. Im Interview diskutiert Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle unter anderem, wie wahrscheinlich eine Koalition zwischen FPÖ und ÖVP ist.
„Tore weit offen“
Für den Politikberater Thomas Hofer und den Meinungsforscher Peter Hajek ist eine blau-schwarze Zusammenarbeit sehr wahrscheinlich geworden. „Ich glaube, dass mit dem Wechsel dieser Linie bei Van der Bellen und auch der ÖVP (…) die Tore zur blau-schwarzen Zusammenarbeit sehr weit geöffnet wurden“, sagte Hofer im APA-Interview. Selbst wenn Van der Bellen in einer Präambel ein Bekenntnis zu Menschenrechten, Medienfreiheit und der EU fordern würde (wie Klestil im Jahr 2000 von der ÖVP-FPÖ-Regierung und Wolfgang Schüssel gefordert hatte), könnte Kickl „wahrscheinlich daran vorbeikommen“.
Fragwürdige FPÖ-Reaktion auf Stocker
Hajek verwies auf Stockers Aussagen, dass die ÖVP gerne jedes Angebot der FPÖ annehmen würde, über Koalitionsverhandlungen zu sprechen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Koalitionsverhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP kommt, ist sehr hoch.“ „Jetzt kommt es darauf an, wie Kickl reagiert – auch auf Stockers Persönlichkeit“, sagte der Meinungsforscher und verwies auf einige sehr scharfe Worte des amtierenden ÖVP-Chefs in Richtung Kickl.
Zugleich wies Hajek auf mögliche negative Folgen für die ÖVP hin: „Mittel- und langfristig hat die ÖVP ein Problem.“ Die Frage ist, wie die ÖVP-Wählerschaft darauf reagieren wird. Mit einem solchen Schritt könnte die ÖVP ihre Differenzierung gegenüber der FPÖ weiter verlieren. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die FPÖ mehr Wähler aus dem konservativen Lager gewinnen könnte.
NEOS als Profiteur?
Enttäuschte ÖVP-Wähler „aus dem bürgerlich-liberalen Segment“ könnten möglicherweise zu NEOS abwandern, sagt Hajek. Er sieht die ÖVP derzeit „am Abgrund“ und es sei „bemerkenswert“, dass niemand anderes als der bisherige Generalsekretär die Partei übernimmt. Es sei auch „wirklich bemerkenswert“, dass sowohl ÖVP als auch SPÖ mit dem Scheitern der Verhandlungen nicht mehr beweisen konnten, „dass sich die Republik auf sie verlassen kann“.
„Für einen Teil der ÖVP-Wählerschaft ist es sicherlich schwer zu akzeptieren, die FPÖ auf den Plan zu rufen. „Es ist sicherlich eine Krisensituation für die Partei“, fügte Hofer hinzu. Der Politikberater verwies auch auf Stockers oft harsche Worte gegenüber Kickl. „Stocker wird sich oft Vorwürfe machen müssen, aber er wird es aushalten“ – auch weil er „wahrscheinlich nicht der nächste ÖVP-Spitzenkandidat bei einer Neuwahl sein wird.“
„Immer noch ein bisschen unbekannt“
Stocker sei in seiner neuen Rolle „noch ein bisschen ein Unbekannter“, sagte Filzmaier gegenüber ORF.at. Durch seine politische Heimatstadt Wiener Neustadt – aus der auch sein FPÖ-Kollege Generalsekretär Michael Schnedlitz stammt – sei er „gut mit der FPÖ vernetzt, mit der er kein grundsätzliches Problem habe“. Die Frage sei nun, ob er „nicht gekommen sei, um noch ein bisschen zu bleiben“, sagte Filzmaier. „Interimistische Lösungen halten in Österreich oft länger als man denkt.“