Navigieren im neurochemischen Labyrinth des Antidepressiva-Entzugs

Navigieren im neurochemischen Labyrinth des Antidepressiva-Entzugs
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Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse zum Absetzen von Antidepressiva ergab, dass zwar einer von drei Menschen nach dem Absetzen über Symptome berichtet, die Hälfte jedoch wahrscheinlich auf den Nocebo-Effekt zurückzuführen ist. Schwerwiegende Symptome sind selten und betreffen nur etwa 3 % der Menschen, die die Behandlung abbrechen. Bildnachweis: Issues.fr.com

Erwartungen tragen zu den Symptomen bei, nachdem Antidepressiva abgesetzt wurden.

Ist es schwierig, mit der Einnahme von Antidepressiva aufzuhören? Glaubt man unzähligen Internetpublikationen und zahlreichen wissenschaftlichen Studien, ist das Absetzen dieser Medikamente sehr problematisch und Ärzte unterschätzen oft die damit verbundenen Schwierigkeiten. Es ist jedoch unklar, wie häufig Symptome eines Behandlungsabbruchs tatsächlich auftreten. Forscher der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Universitätsklinikums Köln führten eine systematische Überprüfung und Metaanalyse durch. In ihrem Artikel in Die Lanzette In der Psychiatrie kommen sie zu dem Schluss, dass jeder Dritte nach Absetzen einer Antidepressivum-Behandlung über Symptome berichtet, die Hälfte dieser Symptome jedoch auf negative Erwartungen zurückzuführen sind (Nocebo-Effekt).

Erforschung des Nocebo-Effekts beim Antidepressiva-Entzug

Der formalen Definition zufolge machen Antidepressiva nicht süchtig. Anders als beispielsweise bei „echten“ Suchtmitteln ist der Körper bei der Einnahme nicht dazu gezwungen, immer höhere Dosen zu benötigen, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Dennoch berichten viele Patienten über Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit, wenn sie die Einnahme dieser Stimmungsmedikamente abbrechen. Das Phänomen wurde von der Forschung jahrelang weitgehend ignoriert, doch inzwischen gibt es relativ viele Studien, die versuchen, das Ausmaß der Therapieabbruchsymptome zu quantifizieren.

Unterschiedliche Ergebnisse in Dropout-Studien

„Die Ergebnisse dieser Studien variieren zum Teil erheblich“, erklärt Professor Christopher Baethge, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Köln und an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. „In der Forschungsgemeinschaft und der breiten Öffentlichkeit gab es in den letzten Jahren viele, teilweise sehr emotionale Diskussionen über die tatsächliche Häufigkeit und Schwere von Entzugserscheinungen. » Ein Blick auf die Verordnungszahlen zeigt, wie relevant dieses Thema ist. Laut dem aktuellen Bericht der Arzneiverordnung, der Daten zu Arzneimittelverordnungen zusammenfasst, wurden im Jahr 2022 in Deutschland fast 1,8 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva verschrieben.

Die Schwierigkeit, Antidepressiva abzusetzen, wird oft mit Emotionen diskutiert. Eine Metaanalyse gibt nun Aufschluss über die tatsächliche Häufigkeit von Behandlungsabbruchsymptomen. Bildnachweis: © Charité | Romy Greiner

Eine umfassende Metaanalyse schafft Klarheit

Um diese Frage zuverlässiger als bisher zu beantworten, hat ein Team um Christopher Baethge und Dr. Jonathan Henssler, Leiter der Forschungsgruppe Evidenzbasierte psychische Gesundheit an der Klinik für Psychiatrie und Neurowissenschaften der Charité, bestehende Studien systematisch gesichtet und neu analysiert sie in einer sogenannten Metaanalyse. Als erste Studie dieser Art liefert sie die bislang aussagekräftigste Einschätzung der Folgen eines Abbruchs einer Antidepressivum-Behandlung. „Unsere Analyse zeigt, dass durchschnittlich jeder Dritte nach Absetzen einer Antidepressivum-Behandlung Symptome verspürt“, sagt Henssler. „Allerdings ist nur die Hälfte dieser Symptome tatsächlich auf das Medikament selbst zurückzuführen. »

Placebo-Einfluss und tatsächliche Entzugserscheinungen

Für ihren Artikel untersuchten die Forscher mehr als 6.000 Studien. Anschließend wählten sie 79 davon aus und analysierten die Ergebnisse dieser Versuche erneut mit statistischen Methoden. Letztlich analysierten sie Daten von etwa 21.000 Menschen, die entweder ein Antidepressivum oder ein Placebo erhielten, und fragten dann nach der Prävalenz von Abbruchsymptomen. Etwa 31 Prozent der Patienten, die mit einem Wirkstoff behandelt wurden, berichteten von Abbruchsymptomen, ebenso 17 Prozent derjenigen, die nur ein Placebo erhielten.

„Arzneimittelwirkungen können in der Placebo-Gruppe ausgeschlossen werden, das heißt, dass die Symptome entweder zufällig, unabhängig von der Behandlung, auftraten oder das Produkt des Nocebo-Effekts waren“, erklärt Henssler. Der Nocebo-Effekt wird oft als Spiegelbild des Placebo-Effekts angesehen. Dies erklärt die Beobachtung, dass inaktive Behandlungen mit „Nebenwirkungen“ verbunden sein können. Diese Effekte werden ausschließlich durch die Erwartung ausgelöst, dass die Behandlung, die die Menschen zu erhalten glauben, negative Auswirkungen haben wird.

Häufigkeit und Schwere von Entzugserscheinungen

„Wenn wir unspezifische Symptome und den Einfluss von Erwartungshaltungen berücksichtigen, ist etwa jeder sechste bis siebte Mensch von Abbruchsymptomen betroffen, die als echte Folge einer antidepressiven Behandlung auftreten“, fasst Henssler die Ergebnisse der Studie zusammen. „In den meisten Fällen sind die Symptome mild. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen kann Antidepressiva absetzen, ohne dass relevante Symptome auftreten. Dies bedeutet, dass in den meisten Fällen kein langwieriger oder schrittweiser Reduktionsprozess erforderlich ist.

Bewältigung und Linderung schwerer Entzugserscheinungen

Die Studie ergab, dass bei einem von 35 Menschen oder fast drei Prozent der Betroffenen schwerwiegende Symptome nach einem Behandlungsabbruch auftreten. Diese Art von Symptomen trat häufiger auf, nachdem die Behandlung mit Imipramin, Paroxetin, Venlafaxin und Desvenlafaxin beendet wurde. Den Forschern lagen noch nicht genügend Informationen vor, um den Status einer Reihe weit verbreiteter Antidepressiva beurteilen zu können.

Baethge betont: „Es ist wichtig, dass alle Menschen, die die Behandlung mit Antidepressiva abbrechen möchten, von medizinischem Fachpersonal überwacht und beraten werden und bei Entzugserscheinungen individuelle Unterstützung erhalten.“ Eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Patient und verschreibendem Arzt bereits vor Behandlungsbeginn ist die Grundlage einer guten Behandlung. Wir hoffen, dass unsere Daten Patienten und medizinischem Fachpersonal helfen und dazu beitragen, die Unsicherheit, die diese Probleme heute mit sich bringen, etwas zu lindern.

Weitere Informationen zu dieser Studie finden Sie unter „Absetzen von Antidepressiva: Studie zeigt Risiko von Absetzsymptomen“.

Die 79 in die Metaanalyse einbezogenen Studien umfassten sowohl randomisierte, placebokontrollierte Studien als auch Beobachtungsstudien, die ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurden. Von den 21.002 an den Studien beteiligten Patienten hatten 16.532 ein Antidepressivum und 4.470 ein Placebo erhalten. An der Metaanalyse waren neben Forschern der Charité und des Universitätsklinikums Köln auch Forscher des Universitätsklinikums Freiburg und des Carl Gustav Carus Universitätsklinikums Dresden beteiligt.

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